Über jeden Fluss, den wir glauben, nicht überqueren zu können, können wir eine Brücke bauen. Mal geht es leichter, mal dauert es länger und ist beschwerlich. Manche Brücken werden jahrelang gebaut, manche ein Leben lang und manchmal ist der Fluss darunter bereits ausgetrocknet, ehe wir die Brücke fertig gebaut haben und wir merken es gar nicht… Nur weil wir als Kind ohnmächtig am Ufer gestanden sind und nicht „drüber konnten“, heißt das nicht, dass das bis zum Ende unseres Lebens so sein muss! Wir sind erwachsen geworden, wir haben Kräfte entwickelt, sind gut ausgebildet und haben Lebenserfahrung gesammelt – und trotzdem halten uns Glaubenssätze unserer Kindheit zurück, an uns und unsere Selbstwirksamkeit zu glauben.
Lass mich dich begleiten, den Glauben an dich wieder zu finden und den Mut zu fassen, aus alten Mustern auszubrechen, Brücken zu bauen und nicht am Pflock angebunden zu sein, dem wir längst entwachsen sind – wie der kleine Elefant in der Geschichte von Jorge Bucay. Viel Spaß beim Lesen! 🙂
„Du kannst nicht? Bist du sicher?
Na dann, lass dir mal eine Geschichte erzählen. Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem hat es mir der Elefant angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einem kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nicht weiter als ein winziges Stuck Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich außer Zweifel, dass ein Tier, dass die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte. Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.
Was hält ihn zurück?
Warum macht er sich nicht auf und davon?
Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei. Meine nächste Frage lag auf der Hand: „Und wenn er dressiert ist, warum muss er dann noch angekettet werden?“
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel des Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten. Vor einigen Jahren fand ich heraus, dass zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden: Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er seit frühester Kindheit an einem solchen Pflock gekettet ist. Ich schloss die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, dass er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu tief in der Erde steckt. Ich stelle mir vor, dass er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten… Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der ärmste glaubt, dass ER ES NICHT KANN.
Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt. Und das Schlimmste dabei ist, dass er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat.
Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.”
(aus: Jorge Bucay, „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“)